Das Blatt

Heute möchte ich mal eine Geschichte erzählen.

Eine Frau ging spazieren. Es war Herbst in der Zeit, wo er am schönsten ist. Die Sonne schien und ließ die Farben der Blätter leuchten. Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Die Frau mochte den Herbst und sie mochte die bunten Blätter.

© buntspechtG / pixelio.de

Deswegen hatte sie heute einen kleinen Korb mitgenommen, um die schönsten Blätter zu sammeln. Sie wollte damit eine hübsche Dekoration für ihre Wohnung basteln.

Da war ein sehr schönes schmales rotes Blatt, das legte sie in ihr Körbchen. Ein Blatt war noch grün und in der Mitte schon etwas gelb, das legte sie dazu.

© Rolf Handke / pixelio.de

Andere Blätter waren rotbraun, manche glatt, viele schon gewellt. Sie sammelte noch einige Blätter, die am Boden lagen und richtete sich dann auf. (Vom langen Bücken tat ihr schon ein bisschen der Rücken weh.)

© Marion / pixelio.de

Da fiel ihr Blick auf ein Ahornblatt, das noch am Baum hing. Es war goldgelb und leuchtete in der Sonne. Es sah wunderschön aus. Die Frau wollte es schon abpflücken und mitnehmen, da fiel ihr Blick auf einen hässlichen schwarzen Fleck in der Mitte des Blattes. Und außerdem war der Rand schon richtig braun. „Nein, dieses Blatt ist nicht schön, ich nehme es nicht mit“, dachte sie.

Plötzlich war ihr, als ob eine leise Stimme zu ihr sagte: „Warum findest du dieses Blatt nicht schön? Es ist doch auch nicht schlechter, nur weil es ein paar Macken hat. Schau nur, wie es in der Sonne leuchtet! Warum fällt dein Blick zuerst auf das, was fehlerhaft ist?“

Die Frau dachte einen Moment nach. Hatte jetzt Gott zu ihr gesprochen? Konnte es sein, dass er ihr damit etwas sagen wollte?

Menschen sind wie Blätter – so unterschiedlich. Keiner gleicht dem anderen, jeder ist einmalig. Jeder hat seine eigene Farbe und Geschichte. Manche – viele – Menschen haben irgendwo einen Fleck, ein Manko, eine Macke. Und manche sind auch am Rand schon etwas braun – abgenutzt und müde geworden. Es passiert, dass solche Menschen von sich denken: „Ich bin nicht so schön wie die anderen, ich habe dieses Defizit, diese Krankheit oder Behinderung. Sicher denken alle von mir: Was ist den mit dem, mit der los?“ Oft vergessen sie dabei ihre Schönheit und Einzigartigkeit, vergessen, dass Gott sie so geschaffen hat und dass er sich etwas dabei gedacht hat. Und sie vergessen eins: Wenn das Licht der Liebe Gottes hindurch scheint, dann kann jedes Blatt wunderschön leuchten.

Die Frau ging nachdenklich weiter. Das Blatt hatte sie nicht mitgenommen. Sie hatte es am Baum hängen gelassen, damit es noch für andere Spaziergänger in der Sonne leuchten konnte.

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